Beschreibung
Buchbesprechung von Prof. Dr. Martin Bondeli, Philosophisches Institut der Uni Bern:
Werner Adams: Sie wollen Menschen werden. Bern und Jena. Ein geistig-kultureller Austausch 1796-1803. Wichtrach 2020, 123 Seiten.
«Sie wollen Menschen werden», so lautet der Titel einer 2020 erschienenen Veröffentlichung aus der Feder von Werner Adams. Der Untertitel verrät, dass der Autor sich einem Themenaspekt der Menschwerdung widmet, der uns in die Ära der mit den Feudalverhältnissen des Ancien Régime brechenden Helvetischen Republik hineinversetzt. Wir werden Zeuge der Erlebnis- und Ideenwelt junger Köpfe, die damals, beflügelt durch die Literatur der Weimarer Klassik und den revolutionären Kantianismus der Jenenser Philosophie, einen historischen Neuanfang herbeisehnten, in welchem nun endlich alle Menschen in den Genuss ihrer natürlichen Rechte und Freiheiten gelangen sollten. Dabei stammten diese Köpfe vornehmlich aus dem Berner Patriziat. Mitte der 1790er-Jahre hatten sie an der Universität Jena bei Geistesgrößen wie Reinhold, Schiller und Fichte ihre Studienzeit verbracht und in Studentenbünden ihre Zukunftspläne geschmiedet. Zusammen mit deutschen Kollegen waren sie von der Saalestadt in die Heimat zurückgekehrt und darauf bedacht, zu der absehbar werdenden Herausbildung einer republikanischen Menschheitsepoche beizutragen. Der Einmarsch französischer Revolutionstruppen in Bern 1798 und die Durchführung der bürgerlicher Neuerungspläne unter napoleonischem Diktat konnten sodann nur beschränkt nach ihrem Geschmack sein, widersprach dies doch ihrem Bedürfnis, Weltbürgergesinnung und Patriotismus, aufstrebende Urbanität und Sehnsucht nach vergangener Naturharmonie zu vereinen. Doch empfand man es als geboten, sich zum Zwecke der guten Sache mit dem welthistorischen Machtgefüge zu arrangieren. Und so erstaunt es nicht, dass nach 1798 eine ganze Reihe bernischer Politiker mit Jenaer Vergangenheit ein einflussreiches Amt in der Verwaltung der einen und unteilbaren Helvetischen Republik bekleideten. Enttäuschungen und Rückschläge blieben nicht aus. Die Helvetik war nur kurz überlebensfähig. Doch wäre es falsch, von einem Scheitern zu sprechen. Die Ideen des bernisch-jenaischen Freundeskreises fanden im staatlichen Erziehungs- und Bildungsbereich sehr bald Anklang und nach wenigen Jahrzehnten auch entscheidend Eingang in die Neuorganisation der ökonomischen und politischen Staatsverfassung.
Was die einzelnen Akteure angeht, sind diese bis heute vor allem im Rahmen von Studien zum Jenaer Umfeld Fichtes und von Recherchen zum Schaffen Philipp Albert Stapfers, des helvetischen Ministers der Künste und Wissenschaften, ins Blickfeld gerückt. Werner Adams schließt an diesen Kontext an und richtet, nach einem einleitenden Aperçu zur damaligen Umbruchs- und Aufbruchsstimmung, sein Augenmerk auf zwei bisher eher wenig wahrgenommene Persönlichkeiten, deren Wege sich in Jena und in der Phase des Aufbaus des helvetischen Staates kreuzten. Es handelt sich um Albrecht Friedrich May (1773-1853) und Friedrich August Eschen (1776-1800).
May, der Sohn eines bernischen Landvogts und spätere Staatsschreiber Berns, darf zu den Hauptfiguren des bernisch-jenaischen Zirkels gerechnet werden. Seinem Tagebuch aus dem Jahre 1796, das Werner Adams erstmals in vollständiger Transkription zugänglich macht, ist zu entnehmen, dass der einer aufgeklärten und frühromantischen Ideenwelt zugewandte Student der Rechte am Gelehrtenleben Jenas regen Anteil nahm. Mit Johann Rudolf Steck und Johann Rudolf Fischer, zwei weiteren namhaften Berner Aristokraten und kommenden helvetischen Politikern, besuchte er die Vorlesungen Fichtes zu Moral und Naturrecht und machte keinen Hehl aus seinen Sympathien für die kantisch-fichte’schen Ideale der menschlichen Autonomie und der wechselseitigen Anerkennung freier Geister in einem ethischen Staat. Zurück in Bern wollte er sich der vaterländischen Pflicht nicht entziehen und führte als bernischer Offizier seine Truppen in die Schlacht bei Neuenegg. Doch war sein prioritäres Ansinnen der Kampf für eine neue Schweiz, so dass er nach der Abdankung des alten Bern zunächst als Sekretär des Direktoriums der Helvetischen Republik wirkte und daraufhin als liberaler Staatsmann die bernische und schweizerische Politik mitgestaltete.
Der aus einer Eutiner Juristenfamilie stammende, seine frühen Ausbildungsjahre beim Homer-Übersetzer Johann Heinrich Voß absolvierende Eschen gesellte sich 1796 zu den Jenaer Fichte-Anhängern und war in der Folge einige Zeit zusammen mit seinen Landsleuten Johann Friedrich Herbart, Casimir Ulrich Boehlendorff und Theodor Ziemssen Hauslehrer in der Umgebung von Bern. Vom Bernbiet aus unterstützte er, im Verbund mit May, Steck, Pestalozzi und weiteren Mitstreitern, die Ideen und Ziele der neuen Republik in der Rolle des Dichters, Denkers und Erziehers. Die von Werner Adams ausgewählten Briefe Eschens aus der Zeit von 1797 bis 1800 sind repräsentativ für eine damals gleichermaßen als befreiend wie leidvoll empfundene Geburtsperiode des neuen Staatswesens. Man erfreute sich der Tatsache, dass die schweizerische Bürgerschaft sich nun einheitlich am Leitfaden von Freiheit, Gleichheit und Volkssouveränität entfalten konnte, litt aber darunter, dass man der französischen Armee als Geld- und Nahrungsquelle zu dienen hatte und dass sich so sehr bald materielle Notlagen und neue politische Zerwürfnisse einstellten.
Nur wenigen aus dem bernisch-jenaischen Freundesbund war er vergönnt zu erfahren, dass ihr Aufklärungsdenken mit der Zeit dennoch Feuer fangen und den Weg in eine lichtvollere Schweiz weisen sollte. Werner Adams gebührt mit seiner Publikation das Verdienst, an das Leben, Hoffen, Leiden und geistreiche Wirken von zwei damaligen Protagonisten zu erinnern. Mehr noch: Er versteht es ausgezeichnet, ein Stück Geschichte aus den Anfängen der modernen Schweiz wiederzuerwecken.
Martin Bondeli (Bern)
123 Seiten
Broschüre, Softcover
1. Auflage November 2020
Satz und Cover: Stefan Wegmüller, atelierste.net, Basel
Arthur Brühlmeier –
Ein kleines, feines Kleinod, für mich ein willkommener Zusatz zu Andrea Wulfs grossartiger Gesamtschau auf die geistige Strahlkraft Jenas um 1800 in ihrem Buch „Fabelhafte Rebellen“. Für mich alten weissen Mann ein etwas wehmütiger Blick auf junge Menschen, die ihre eigene ethisch fundierte Lebensgestaltung als Grundlage für ein fruchtbares Wirken zu erkennen vermögen. Ein wehmütiger Blick auch auf eine Zeit, in der nicht das Mann- oder Frausein, sondern das Menschsein im Zentrum stand.
Anette Laux –
Es war für mich interessant vom Leben des Studenten Friedrich August Eschen zu erfahren. Er war politisch interessiert, lernwillig, strebsam, hatte eine innige Bindung zur Familie und war sehr naturverbunden. Es blieb natürlich viel Zeit sich der Natur zu widmen, da Medien wie TV, Internet usw. nicht existierten, außerdem war es lebensnotwendig, sich in den Naturwissenschaften auszukennen, um bei einer Reise, oft tagelang zu Fuß, erfolgreich ans Ziel zu gelangen.
Das Buch kann ich nur weiter empfehlen und es inspiriert mich, auch weitere von Werner Adams zu lesen.
Marco Stoll –
Wie schrieb zu Beginn 19. Jahrhunderts ein Sohn an seinen Vater? Wie erlebte ein Schweizer Student das Leben an der Uni Jena? Wie erlebte ein junger Mann die Wirren der helvetischen Revolution? All das kann man aus erster Hand erfahren. Die von Werner Adams sorgfältig transkribierten Briefe und Tagebücher geben einen genauen Einblick in das Leben von Menschen, die einen neue Welt, eine neue Realität schaffen wollten.